Vor gut zwei Monaten eröffnete das Brooklyn Museum auf seiner Internetseite die virtuelle Ausstellung „The Queen and the Crown“. In einer computersimulierten großen Halle können Besucher die Kostüme zweier Netflix-Produktionen anschauen: „The Crown“ über die britische Königsfamilie – und „The Queen’s Gambit“, auf Deutsch „Das Damengambit“, in der es um das Schach-Wunderkind Beth Harmon geht. Das Museum, das mit Netflix zusammenarbeitete, wollte damit vielleicht auf einen Hype aufspringen, den besonders „Das Damengambit“ kurz zuvor ausgelöst hatte. Allein im ersten Monat nach Beginn der Ausstrahlung EndeOktober schauten 62 Millionen Haushalte weltweit die Serie. Auch wenn darunter alle fallen, die mehr als zwei Minuten durchgehalten haben, ist das eine riesige Zahl, die „Das Damengambit“ zur erfolgreichsten Miniserie macht, die je auf Netflix gelaufen ist.

Dass ausgerechnet eine Serie über Schach diesen Rekord aufstellt, mag überraschen. Schach ist zwar ein Klassiker unter den Brettspielen, der Klischeefan gilt jedoch oft als Nerd. Dank Netflix könnte es nun zu einem Trendspiel werden, denn der Erfolg der Serie zeigt sich nicht nur an den Zuschauerzahlen. Von einem regelrechten Schach-Hype war in den Vereinigten Staaten die Rede, Schachbretter, so hieß es in einer Radiosendung des National Public Radio, seien das neue Klopapier: heiß begehrt und schwer zu bekommen. In einer Pressemitteilung brüstete sich Netflix, dass die Ebay-Suchanfragen nach Schachbrettern seit Ausstrahlung der Serie um 250 Prozent gestiegen seien. Die Frage „how to play chess“, wie spielt man Schach, sei so häufig bei Google eingegeben worden wie seit neun Jahren nicht mehr. Auf Internetplattformen wie Chess.com oder Lichess.org haben sich die Neuregistrierungen in den vergangenen Wochen verfünffacht.

Schachspiele sind kaum mehr zu kriegen

Fragt man Christoph Kamp, Inhaber von Schach Niggemann, dem größten Anbieter von Spezial-Schachbedarf in Europa, ob es den Boom auch in Deutschland gebe, sagt er lachend: „Ja, allerdings. Ohne jeden Zweifel.“ Seit November, also gleich nach Serienstart, habe er zehnmal so viele Spiele verkauft wie sonst um diese Jahreszeit. Die Produkte aller Hersteller seien praktisch alle ausverkauft, es könnte also in den nächsten Monaten schwierig werden, an Schachbretter zu kommen: „Das ist natürlich eine vollkommen ungewöhnliche Situation.“ Vereinzelt habe er sogar Anfragen von Vertriebspartnern aus Amerika, die versuchten, ihren Bedarf mit Schachbrettern aus Europa zu decken.

Sucht man nach einer Erklärung für die plötzliche Schachbegeisterung, geht es wahrscheinlich nicht nur um das Spiel selbst. Zwar ist die Serie auch deshalb besonders, weil sie, wie viele Schachgroßmeister bestätigen, die Schachpartien realistisch darstelle. „Das Damengambit“, sagt Ullrich Krause, Präsident des Deutschen Schachbunds, sei einfach gut gemacht: „Ich habe noch von niemandem gehört, dem die Serie nicht gefallen hat, egal, ob die Leute Schach spielen oder nicht.“ Letztere mögen aber vielleicht nicht nur auf die Spielzüge, sondern auch auf die ein oder andere Tapete geachtet haben. Zwar wurde die Serie auch dafür gelobt, die profane Welt kleinerer Schachturniere realistisch wiederzugeben – Beth spielt zu Anfang in schnöden Schulturnhallen. Doch diese Profanität hat rasch ein Ende. Die Leidenschaft der Protagonistin für schicke Kleider und teure Inneneinrichtung treibt sie fast in den Ruin, und schon zu Beginn der Serie wird klar: Sowohl Beth selbst als auch ihre Stiefmutter sehen Beths Schachtalent als einen Weg zum finanziellen Aufstieg.

Den Einfluss, den die Serie auf das echte Leben hat, sieht man auch daran, was für Schachbedarf gekauft wird. Händler Kamp sagt, er biete eigentlich alles an, was mit Schach zu tun habe. Gestiegen sei die Nachfrage aber vor allem bei Brettern,

Figuren und Anfängerliteratur. Ein Kuriosum lasse sich auch beobachten: „Die Serie spielt ja in den sechziger Jahren. Da benutzte man noch mechanische Schachuhren. Genau die sind also gefragt.“ Dabei würden heute fast ausschließlich digitale Uhren verwendet, weil die einfach genauer seien. Dementsprechend wenig analoge Uhren gebe es auf dem Markt. „Aber die Kunden wollen unbedingt die aus der Serie“, sagt Kamp. Die seien auch sehr detailgenau ausgewählt worden, allerdings eben für die sechziger Jahre. Dass die Uhren damals schicker aussahen als ihre modernen Pendants, mag passionierte Schachspieler allerdings weniger interessieren als Zuschauer, die sich ein hübsches Serienaccessoire nach Hause holen wollen.

Eine Inspiration für Frauen

Nicht nur modetechnisch soll Beth Harmon, das merkt man der Serie an, mit Klischees vom Schach aufräumen. Sie ist eben nicht der klassische Nerd und vor allem – nicht männlich. Dabei sind berühmte Frauen in der Schachwelt bisher eine Seltenheit. Eine Schachweltmeisterin gab es, außer in der Frauenweltmeisterschaft, noch nie, und bisher schaffte es überhaupt nur eine Frau, die Ungarin Judith Polgar, Anfang der neunziger Jahre unter die zehn besten Spieler der Welt. Das liegt aber daran, dass deutlich weniger Frauen Schach spielen als Männer: Von mehr als 91000 Mitgliedern im Deutschen Schachbund sind nur 8000 Frauen. „Ich glaube, sogar im Boxen ist das Verhältnis ausgeglichener“, sagt Melanie Lubbe, eine der besten deutschen Schachspielerinnen. Warum das trotz großer Bemühungen der Vereine so sei, könne sie nicht sagen, so Lubbe. Vielleicht komme es auch daher, dass die männerdominierte Schachwelt abschreckend wirken könne: „Ich will es nicht Diskriminierung nennen, aber man hat schon einen schweren Stand.“ Kommentare, dass man „gut – für ein Mädchen“ spiele, gebe es durchaus. Lubbe, die sich seit Jahren für Mädchen im Schach einsetzt, hofft, dass die Serie dem Frauenanteil ein wenig Auftrieb verschafft.

In den Vereinen ist davon noch nichts zu spüren, was aber nicht am fehlenden Interesse, sondern daran liegt, dass der Spielbetrieb wegen Corona eingestellt ist. Christian Kamp sagt, er finde es bedauerlich, dass der Hype ausgerechnet jetzt komme, da die Vereine ihn kaum nutzen könnten. Dabei ist zu vermuten, dass die Pandemie die Begeisterung sogar beflügelt: Wenn viele Leute viel zu Hause sitzen, wird Schach zum idealen Zeitvertreib. Und online spielen kann man es auch.

Schachbundpräsident Krause ist optimistisch, dass sich die Euphorie auch in die Zeit nach der Krise wird retten können: „Ich bin mir sicher, dass wir einen Zuwachs an Mitgliedern haben werden, wenn der Vereinsbetrieb wieder läuft.“ Es sei ja auch relativ einfach, mit dem Schachspielen anzufangen, denn die Basis sei in den meisten Fällen schon da: „Sehr viele Leute kennen die Regeln. Und wenn nicht, sind sie schnell erklärt.“ Es brauche keinerlei Voraussetzungen, um mit dem Schachspielen anzufangen: „Man kann acht sein oder 80, das ist völlig egal.“ Würde das Alter der Netflix-Zuschauer durchschlagen – für die Zukunft der Vereine jedenfalls wäre das ein Traum.